Schwerhörige Menschen stehen in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Anpassung und kommunikativer Überforderung. Beim Versuch einerseits nicht behindert zu erscheinen um keine Stigmatisierung zu erleben, andererseits dann aber durch eine Verstecktaktik kommunikativen Schiffbruch zu erleiden ist ein Mittelweg nur schwer zu finden und ein täglicher Kraftakt. Eine volle kommunikative und damit soziale Teilhabe an Gruppenprozessen ist nur schwer zu erreichen und bedarf besonderer Voraussetzungen.
Soziale Erfahrungen innerhalb einer stabilen und sicheren Gruppe zu reflektieren gehört zu den heilsamsten Erfahrungen mit denen den zum Teil massiven und sogar traumatisierenden psychosozialen Auswirkungen von Hörschädigungen begegnet werden kann.
Der Schwerhörige kommt nie alleine aufgrund seiner Schwerhörigkeit in eine psychotherapeutische Gruppe, da dies keine psychotherapeutisch relevante Krankheit ist. Er kommt mit psychotherapeutisch relevanten Komorbiditäten, die sich aufgrund der Schwerhörigkeit entwickelt haben. Wir wissen bereits, dass nicht nur die Behinderung an sich Einfluss auf unsere subjektiv empfundene Lebensqualität hat, sondern vor allem der Umgang des Betroffenen mit seiner Behinderung von Bedeutung ist. Wir wissen aber auch, dass Schwerhörigkeit an sich ein Vulnerabilitätsrisiko darstellt, da es sich hier um eine Kommunikationsbehinderung handelt, und das Leben von der ersten Sekunde an mitbestimmt.
Diese Vulnerabilitätsfaktoren sind: Hörstress, Kohäsionsverlust durch sozialen Stress wie Mobbing, Scham, Enttäuschungen, Trauer über die möglicherweise immer schlechter werdende Hörfähigkeit, Trauer und Wut über Einschränkungen (Telefon, Musik etc.), Trauer und auch Wut wegen beruflicher Einschränkungen, Abhängigkeitsgefühle, Angst vor Einsamkeit, Angst vor Ausschluss aus Gruppenprozessen, Depression, Identitätskrise, …
Schwerhörigkeit ist in erster Linie eine Kommunikationsbehinderung. Analysen eines Gesprächs sowie allgemeine Informationen über Kommunikation (Watzlawick, von v. Thun) werden erläutert bzw. gleich gemeinsam erarbeitet, Hör- und Kommunikationstaktik angewendet. Das 4 Ohrenmodell z.B. wird in einem Rollenspiel erfahrbar, die Kommunikationstaktik wird mit Hilfe des Modells „Eine Brücke wird immer von zwei Seiten gebaut“ von Joachim Müller erarbeitet.
Die Biographie und der Verlauf der Hörbehinderung beeinflussen die Vulnerabilitätsfaktoren sehr stark, die mit Hilfe des „Sozialen Atoms“ entsprechenden Raum finden soll.
Ressourcenarbeit und die Entwicklung bzw. Stärkung des Immunsystems der Seele, die Resilienz, durch Erarbeitung von Schutzfaktoren sind weitere Schwerpunkte.
In einem weiteren Schritt können die Komorbiditäten behandelt werden: die Verdeutlichung und Bewältigung negativer Gedanken und Gefühle im Kontext der Hörbehinderung, die kognitive Änderung von Hilflosigkeit, Resignation und Versagensängsten sowie die Überwindung sozialer Isolation, Anhebung des Selbstwertes, das Erlernen eines achtsamen Umgangs mit sich selbst, Selbstvertrauen in der Äußerung eigener Bedürfnisse und die Stärkung der Durchsetzungsfähigkeit in geselligen Situationen etc..
Psychodramatische Rollenspiele bieten eine hervorragende Möglichkeit, sich im vertrauten therapeutischen Rahmen mit alltäglichen und kritischen Hörsituationen auseinanderzusetzen. In all diesen Interventionen integriert der schwerhörige Mensch Schritt für Schritt seine Rolle als Schwerhöriger und und kann nun selbstbestimmt und frei damit umgehen und weitere Rollen entwickeln.
Therapieziel jeder psychodramatischen Gruppe ist die Rollenerweiterung, in der auch die Rolle des Schwerhörigen Platz findet, denn wenn diese Rolle keinen Platz findet, kann der Schwerhörige gar nicht in den Prozess der Rollenentwicklung kommen. Es geht darum aus der Rolle des Verstecktaktikers und der Scheinkommunikation zu einer echten Begegnung zu finden.
Rollenentwicklung beginnt damit, dass die Existenz einer noch nicht verfügbaren Rolle wahrgenommen wird (role–perception), in unserem Fall die Rolle des „Sichtbaren Schwerhörigen“.
In der zweiten Phase des Rollenspiels (role – enactment) wird die Rolle dann entwickelt. Hier gibt es unterschiedliche Freiheitsgrade, je nach Stärke der biographischen und gesellschaftlichen Vorprägung. Wird eine vorgefundene Rolle unverändert angenommen, spricht Moreno von einer Rollenübernahme (role-taking). Wird eine Rolle aktiv, also auch kreativ an die eigenen Lebenskontexte eingepasst, wird dies als Rollenspiel (role-playing) bezeichnet. Rollenkreation (role-creating) ist der Prozess der spontanen Rollenschöpfung.
Die Rollengenese ist letztendlich „ein aus Kognition, Perzeption, Verhalten und Handeln aufs Feinste miteinander verwobener Prozess“.
Ziel ist
- das Rollenrepertoire zu erweitern, indem auf der Psychodrama-Bühne neue Rollen entwickelt (Rollenkreation), erprobt und schließlich im Rollentraining geübt werden,
- Fixierungen auf dysfunktionale Rollen (z. B. die Verstecktaktik oder die des hilflosen Kindes etc.) aufzulösen,
- zurzeit unzugängliche Rollen im Rollenrepertoire der Klient/innen zu reaktivieren,
- Möglichkeiten für eine flexiblere Ausgestaltung vorhandener, aber in Rollenkonserven erstarrten Rollen zu entwickeln (Rollenelastizität)
- Lösungen für Rollenkonflikte zu finden
- Reflektieren von eigenen und fremden Verhaltens- und Handlungsmustern
- Kennenlernen eigener Ressourcen und Grenzen in unterschiedlichen Situationen
- Veränderung von Verhaltensmustern und Handlungsabläufen
- Erweiterung individueller Handlungskompetenzen
- Linderung von Gefühlen der Hilflosigkeit und Unsicherheit
- Reduzierung von Gefühlszuständen wie Ängsten und Befürchtungen
- Entwicklung von Empathie durch das Spielen von bislang fremden Rollen
- Erfahrungen, die andere gemacht oder beschrieben haben, im Spiel nachempfinden
- Experimentieren mit Teil-Identitäten
- Heilung im Kontext rituellen Handelns
- Psychohygienischer Effekt
- Freude an Rollenerprobung und Rollenerweitung
- Kreativitätsförderung
Identität und Kohärenz entstehen aus gelebten Rollen. Wie wir wissen, leidet der Schwerhörige unter einer permanenten Identitätskrise.
Nach Moreno wird die Identität des Individuums durch die entsprechende Kultur bzw. Gesellschaft, in der er lebt, geprägt:
- Das Individuum handelt in seiner Rollenperformanz immer auf dem Hintergrund kategorialer Rollen, auf dem Hintergrund „kultureller Konserven“
- Die Identität ist als Gesamtheit der vom Individuum spezifisch eingegangenen Rollenkonfigurationen zu verstehen. Der Mensch hat also kein soziales Atom, er ist sein soziales Atom. Und er ist seinem Wesen nach kollektiv verfasst, er hat eine Kollektiv-Identität. Identität ist also abhängig von ‚den anderen‘: Das Handeln und das Erleben der anderen und von sich selbst in der Interaktion (Tele und Autotele) und in diesem Sinne die Beziehungen zu anderen Personen (soziales Atom) sind konstitutiv für die Herausbildung und Entwicklung von Identität.
- Identität ist abhängig von der Anzahl der Rollen und der Lebendigkeit des Rollenhandelns: Je mehr Rollen ein Individuum spielen kann, desto reicher ist sein Selbst. Zentraler Bedeutung kommt dabei auch der Möglichkeit der persönlichen Gestaltung der Rolle durch das Individuum zu, das damit gegenüber den gesellschaftlichen Determinationen seinen eigenen Freiraum erhalten kann. Wichtig sind in diesem Zusammenhang die metatheoretischen Konzepte der Spontaneität und der Kreativität, durch welche die Lebendigkeit des Rollenhandelns gewährleistet werden.
Da die Verstecktaktik in unserer Gruppe nicht nötig ist, können wir uns nun aus einer Distanz diese versteckte Rolle „der Schwerhörige“ ansehen, bearbeiten und integrieren und damit zu einer eigenen Identität finden. Eine Rollenentwicklung wird möglich, dysfunktionale Rollen können aufgelöst werden, unzugängliche Rollen reaktiviert und neue Rollen gefunden werden. Damit wird die Rolle des Schwerhörigen eine Rolle unter vielen.
Wir legen fest, dass es Gruppen sein können, in der alle schwerhörig sind. Auf der einen Seite widerspricht das etwas dem Gedanken der Inklusion, auf der anderen Seite denke ich, kann und soll auch einmal Raum und Platz geschaffen werden für eine Gruppe, für die es sonst kaum einen Platz gibt. Schon alleine, dass es ein solches Gruppenangebot gibt, kann schon sehr heilsam erlebt werden. So kann sich eine eigene Identität entwickeln, können die Probleme, die nur Schwerhörige haben, auf die Bühne gebracht werden. Und hier kann auch erprobt werden, wie in Folge eine Teilnahme an einer inklusiven Gruppe „draußen“ am besten gelingt.
Bei einer Gruppe mit ausschließlich hörbehinderten Teilnehmern besteht der Vorteil durch die Behinderung bereits ein „kollegiales Bündnis“ als ein Gegengewicht zur sozialen Paranoia und Kohäsion zur Verfügung zu haben.
Alle können lautsprachlich kommunizieren, ob alle Hörgeräte tragen, könnte schon ein erster Diskussionspunkt sein. Dies gilt im Vorfeld in einem Einzelgespräch zu klären bzw. kann natürlich auch in der Gruppe thematisiert werden.
Die therapeutische Gruppe muss so eingerichtet werden, dass eine stressfreie Kommunikation stattfinden kann. Schlechte Kommunikationsbedingungen ist mit Abstand der größte Stressor für Schwerhörige und haben in einer therapeutischen Gruppe nichts zu suchen. Jede Art von Hörstress muss unbedingt vermieden werden. Das heißt, der Raum muss über eine gute Akustik verfügen, Abhilfen schaffen hier Stoffe in Form von Vorhängen oder/ und Teppichen, der Sitzkreis muss klein sein, damit alle Teilnehmer einander gut sehen und räumlich nahe sind. Jeder Teilnehmer muss unangestrengt einem Gespräch folgen können.
Gute Akustik bedeutet auch, keine Nebengeräusche zu haben. Gutes Hören bedeutet in diesem Fall auch gutes Licht bzw. gutes Ausleuchten des Raumes.
Jede Art von technischer Hilfe ist willkommen, aber oft nicht vorhanden. Optimal wäre eine Kommunikatonsanlage mit Mikrofonen.
Unsere Begegnungen, der Prozess in Beziehung zu treten ist so verknüpft mit lautsprachlicher Kommunikation, dass die Szene vom ersten gesprochenen Satz an entsprechend eingerichtet werden muss. Der Gruppenleiter teilt mit, wenn es sich nicht um eine reine Schwerhörigengruppe handelt, dass es Hörbehinderte in der Gruppe gibt, die spezielle Dinge brauchen. Gleich zu Beginn werden Gruppenregeln aufgestellt und oben genannte Punkte erläutert. Ein weiterer Punkt muss die Hör- und Kommunikationstaktik sein, auf die vom Gruppenleiter ausführlich eingegangen wird. Analysen eines Gesprächs sowie allgemeine Informationen über Kommunikation (Watzlawick, von v. Thun) werden erläutert bzw. gleich gemeinsam erarbeitet (siehe oben). Das gilt für alle Gruppen, da viele Schwerhörige hier auch nicht geschult sind. Normalhörende könnten zu einem Rollentausch angeregt werden, z.B. durch Verstopfen der Ohren mit Oropax und Abwenden des Gesichts.
Der schwerhörige Teilnehmer braucht beim therapeutischen Spiel eine Sicht auf die Gesichter der Agierenden. Das heißt, dass er nicht auf die Bühne, aber möglichst nahe zur Spielbühne gehen kann. Es können immer alle selbstverständlich möglichst nahe der Spielbühne sein. Die Teilnehmer können auch ihre Positionen ändern, sowohl die Teilnehmer auf der Bühne als auch die Zuschauer, wenn sie Hörprobleme bekommen.
Nachfragen ist erwünscht, Verstecktaktik ist unerwünscht. Das allerwichtigste ist, dass die Teilnehmer, vielleicht zum ersten mal, alles in der Gruppe geäußerte akustisch gut verstehen.
Im Psychodrama können interpersonelle und intrapersonelle Beziehungen (zwischen Selbstanteilen bzw. „inneren Rollen“) z. B. mit Hilfe von Hilfs-Ichs, intermediären Objekten oder der Technik des „leeren Stuhls“ in Szene gesetzt und im Rollenwechsel erfahren werden. Durch die Integration unbewusster oder abgelehnter innerer Anteile kann der Mensch seiner Umwelt konsistenter begegnen, Zugang zu seiner Kreativität finden und sein interpersonelles Beziehungsgefügerealistischer und befriedigender gestalten.
So kann dieser versteckten Rolle behutsam begegnet werden, kann Katharsis wirklich gelingen, die Erlebnisfähigkeit erweitert, ein Wirklichkeits – Mehrwert bzw. eine „surplus – reality“ erreicht und ein neues und umfassenderes Wirklichkeitserleben ermöglicht werden, denn die Fähigkeit, mit anderen befriedigend zu interagieren, hängt davon ab, in welchem Maße es gelingt, einen inneren Rollenwechsel oder Rollentausch zu vollziehen. Es muss an der „konservierten Existenz“, an der mit der Verstecktaktik getarnten Rolle gearbeitet werden, sodass sie zumindest nicht mehr so allmächtig ist, sondern der Umgang souveräner handhabbar wird.
Es ist nicht nur das Sichtbarmachen der Rolle als Schwerhöriger, sondern auch das Erleben einer positiven Resonanz der Gruppe. Es wird auf die Bedürfnisse des Schwerhörigen eingegangen. Für viele Betroffene ist schon das sehr heilsam, wie ein „wahres zweites Mal“, das psychische Wunden heilen lässt. Die psychotherapeutische Gruppe erfüllt das Wunschinteraktionsprogramm positiv, das lässt Glücksgefühle beim einzelnen Teilnehmer entstehen. Dies wiederum erzeugt ein Glücksgefühl in der ganzen Gruppe, weil alle und jeder einzelne die Erfahrung, ein gutes Hilfs- Ich zu sein erlebt.
Nicht zuletzt kann das Psychodrama durch seinen ganzheitlichen Ansatz dazu beitragen, dass Spontaneität und Kreativität geweckt und erhalten werden. Damit könnte auch der Zugang zu dem, mit zunehmendem Lebensalter und reicherer Erfahrung, vermehrt vorhandenem Datenmaterial des Spätschwerhörigen erhalten werden.
Für den Frühschwerhörigen gilt es, die Rolle des Regisseurs bzw. der Regisseurin des eigenen Lebens zu entwickeln, für den Spätschwerhörigen, diese nicht zu verlieren und weiter zu entfalten.
Die Verstecktaktik, die dem Schwerhörigen so viel kostet, zeigt eine tiefe Sehnsucht nach der Gruppe. Der Hörbehinderte fühlt sich ja aus der Gruppe herausgefallen. Mit den entsprechenden Rahmenbedingungen und der sorgfältigen Anwendung von Hör- und Kommunikationstaktik ermöglicht gerade eine therapeutische Gruppe eine heilsame Szene, in der eine „wahre“ Begegnung lebendig werden kann.
„Psychodrama“ ist eine in Österreich anerkannte psychotherapeutische Methode, die handlungs- und ressourcenorientiert ist. Ziel psychodramatischer Arbeit ist, aktivierend zu wirken, gelingende Begegnung mit anderen Menschen sowie Spontaneität zu fördern – im Sinne einer lebendigen und situationsadäquaten Handlungsfähigkeit. Psychodrama ist dadurch gekennzeichnet, dass es einen bemerkenswert großen und umfangreichen „Methodenkoffer“ besitzt, der mit den verschiedensten Techniken, Arrangements und Handwerkszeugen angefüllt ist. Zu den bekanntesten Arrangements zählen das psychodramatische Rollenspiel sowie die psychodramatische Aufstellungsarbeit. Beide können sowohl im Einzel- als auch Gruppensetting zum Einsatz kommen. Insbesondere aufgrund dieser szenischen Arrangements wird das Psychodrama häufig als sehr realitätsnah und gleichzeitig auch über diese Realität hinausgehend – also bereichernd – empfunden.
Weitere zentrale Techniken sind beispielsweise Rollenwechsel und Rollentausch, Doppeln, Spiegeln, Sharing etc. Gemeinsam haben sie alle, dass ihr Einsatz entwicklungspsychologisch begründet werden kann, und dass diese Techniken somit auch als besondere Wirkfaktoren der Psychodrama-Psychotherapie gelten.