Der Zugang zur Welt, die Bindung zum anderen und die „Arbeitshaltung“, wie wir Probleme angehen, werden in den ersten Lebensjahren geprägt. Hier möchte ich Ihnen Stimmungsbilder aus meinen frühen Jahren vermitteln, die mich beeinflussten und meine Arbeitshaltung formten.
Zu meinem Großvater hatte ich großes Vertrauen.
Ich lernte schon früh unterschiedliche Welten kennen: Die lebendige Großstadt Wien, voll mit freidenkenden Menschen, in der sich gesellschaftspolitisch einiges bewegte. Frauen und Priester emanzipierten sich, neue Lebensformen wurden erprobt, Studierende und Kunstschaffende stellten die etablierte Ordnung in Frage, der Erziehungsstil war antiautoritär und Eltern bemühten sich um einen Dialog auf Augenhöhe mit ihren Kindern. Viele Errungenschaften konnten sich etablieren, so manches blieb auf der Strecke, einiges verlor sich wieder. Gemeinschaftsgefühl erlebte ich hier bei Rix Picker, der damals eine alternative Form der Messfeier anbot, bis ihn die katholische Kirche aus seinem Amt enthob und er Psychotherapeut wurde.
Dann fuhren wir oft nach Linz, der Geburtsstadt meines Vaters. Mein Großvater hatte aus dem Nichts eine Autowerkstadt aufgebaut, mit viel Fleiß, aber auch dickköpfigem Stolz und unternehmerischer Intelligenz. Er wusste, was er tat und war ein respekteinflößender Chef. Mit uns Enkelkindern hatte er aber die größte Freude und Geduld. Ich fühlte mich beschützt und hatte großes Vertrauen zu ihm.
Hier spürte ich die Geborgenheit einer Familie – den Leibetseder-Clan mit vielen Cousinen und Cousins und Tanten und Onkeln – die sich jedes Jahr zu Allerheiligen am Familiengrab und anschließender ausführlicher Zusammenkunft traf.
Ab meinem 2. Lebensjahr erlebte ich in Mieger, im südlichen Kärnten, nahe zur slowenischen Grenze, pures und archaisches Landleben, tief verwurzelt mit Natur und der ursprünglichen Ordnung. Die Menschen hier waren alle miteinander verwandt und damit durch ein unsichtbares Band verbunden. Als Kinder liebte ich die Kirchtage, alle kannten jeden und jeder war Teil dieser Gemeinschaft.
Kongenial verbunden wurden meine Welten durch den sehr frei lebenden Künstler Heinz Goll, der damals als erster in dieser Gegend von der Stadt Klagenfurt auf eben dieses Land in Südkärnten zog und für mich dieses grenzenlose Gefühl von Freiheit in der Natur mit einer gestaltenden Kreativität verband, die mir das Gefühl vermittelte, dass vieles vorstellbar und alles Vorstellbare umsetzbar ist.
Diese Kraft der Imagination spiegelt sich bei Künstlerinnen und Künstlern in ihren Werken wider. In der Psychotherapie zeigt sich dies in einem besonders sensiblen Einfühlungsvermögen – Psychodramatiker*innen sagen dazu „In der Fähigkeit zum Rollentausch“ und im Erkennen der Möglichkeiten, die in uns schlummern. Das Vorstellbare wird zum leitenden Ziel. Psychodramatiker*innen und viele andere psychotherapeutische Schulen bezeichnen dies als „ressourcenorientiertes Arbeiten“.
Die Dimension des Vorstellbaren entwickelt sich durch eigene Erfahrungen und durch ein angst- und vorurteilsfreies Hinschauen. Die Begrenzungen der Möglichkeiten, unser Leben zu gestalten, befinden sich vorwiegend in unseren Köpfen. Ziel jeder Therapie ist es, diese Grenzen zu verändern, zu erweitern und letztendlich zu überwinden. Im Psychodrama wird dies Rollenerweiterung genannt. Ziel ist es, selbst (wieder) Regie über ein möglichst glückliches Leben zu führen.
Jacob Levy Moreno, der Begründer des Psychodramas, hat, um ein Gefühl für unsere Handlungsmöglichkeiten zu bekommen, den Vorschlag gemacht, in die Rolle von Gott zu schlüpfen. Ich selbst habe das bei mir ausprobiert und auch meinen Klientinnen und Klienten vorgeschlagen. Die Wirkung war oft sehr bewegend – zuversichtlich konnten so Ängste überwunden und Gestaltungsmöglichkeiten erobert werden.
Heinz Goll
Entstanden ist bei Moreno diese Idee beim Spielen mit den Nachbarskindern, als er vier Jahre alt war und mit seiner Familie (noch) in Bukarest lebte:
„Die erste psychodramatische Sitzung fand statt, als ich im Alter von vier Jahren irgendwann im Jahr 1894 Gott spielte. An einem Sonntagnachmittag gingen meine Eltern Freunde besuchen. Ich blieb zu Hause, um mit einigen Nachbarskindern zu spielen. Wir waren im Keller unseres Hauses, einem großen, bis auf einen riesigen Eichentisch in der Mitte, leeren Raum. Beim Versuch, ein Spiel auszudenken, kam ich auf die Idee: ‘Lasst uns Gott und seine Engel spielen!’ ‘Aber wer soll Gott spielen?’ ‘Ich bin Gott und ihr seid meine Engel’, erwiderte ich. Die anderen Kinder stimmten zu. ‘Wir müssen zuerst die Himmel bauen’, erklärte eins der Kinder. Wir schleppten Stühle aus dem ganzen Haus in den Keller, stellten sie auf den großen Tisch und begannen, einen Himmel nach dem anderen zu bauen, indem wir mehrere Stühle auf einer Ebene zusammenbanden und weitere Stühle darauf stellten, bis wir die Decke erreichten. Dann halfen mir alle Kinder, auf den obersten Stuhl zu klettern, wo ich einigermaßen sitzen konnte. Die Kinder gingen dann singend um den Tisch herum, wobei sie ihre Arme als Flügel benutzten. Ein oder zwei der größeren Kinder hielten den Berg von Stühlen fest, den wir zusammengetragen hatten. Plötzlich fragte mich eins der Kinder: ‘Warum fliegst du nicht?’ Ich breitete meine Arme aus und versuchte es. Auch die Engel, die die Stühle hielten, flogen davon.
Einen Augenblick später fiel ich und fand mich mit gebrochenem rechten Arm auf dem Boden wieder … Das Psychodrama des gefallenen Gottes. Das war, soweit ich mich erinnern kann, die erste ‘private’ Psychodramasitzung, die ich jemals geleitet habe. Ich war zugleich Leiter und Protagonist. […] Dass ich fiel, als die Kinder aufhörten die Stühle zu halten, hat mich vielleicht die Lektion gelehrt, dass sogar das höchste Wesen von anderen – ‘Hilfs-Ichs’, abhängig ist und dass ein Patient-Protagonist sie für angemessenes Handeln braucht. Allmählich lernte ich auch, dass andere Kinder ebenfalls gerne Gott spielten“ (Autobiografie 1995, 21f).
Aus “Jacob Levy Moreno – der Mann, der Freude und Lachen in die Psychiatrie brachte.” Mehr dazu finden Sie hier.
Wir sehen, wie verzahnt der psychotherapeutische Beruf mit dem ganz persönlichen Leben ist – Psychotherapie ist nicht bloß eine Technik, sondern erweitert den Zugang zur Welt. Psychotherapie beinhaltet Techniken, aber auch viel anthropologisches und entwicklungspsychologisches Wissen, die zu Haltungen und Reflexionen zum und über den Menschen führen. Deshalb ist Psychotherapie ohne eine philosophische Reflexion für mich nicht denkbar. Moreno hat dies in seiner Philosophischen Psychotherapie stets reflektiert und uns damit eine Struktur für einen offenen und lebendigen Prozess geschenkt. Auch die Wesensverwandtschaft von Psychodrama und Inklusion kann damit sehr deutlich gezeigt werden.
In meiner Hausarbeit „Über die Beziehung zwischen Inklusion und Psychodrama” stelle ich die Philosophie Morenos und die Beziehung zur Inklusion zum ersten Mal dar, später auch in meiner Masterthese.
Psychodrama beschäftigt sich mit der Heilung des Individuums in Gruppen oder im Einzelsetting. Psychodrama versucht, die Wahrheit der Seele durch Handeln zu ergründen (Handlung heißt auf Griechisch Drama).
War bei Freud der „symbolische Behälter“ die psychoanalytische „Couch“, ist es hier das psychodramatische Theater. Und in einem Theater können alle mitmachen. Es gestattet das „acting-out“ aller möglichen Emotionen, Erfahrungen, Sehnsüchte und Visionen.
Der Therapeut, die Therapeutin zeichnet sich in diesem Prozess durch eine Verantwortung für die konkrete Begegnung im Hier und Jetzt aus, indem er/ sie Helfer, Hilfs-Ich für den anderen wird.
Diese Verantwortung übernehmen wir, weil wir soziale Wesen sind. Durch jede Begegnung erweitert sich unser Handlungsspielraum, wodurch wir die Verpflichtung haben, ihn zu nutzen. Es gibt keine begrenzte, teilweise Verantwortung, sagt Moreno. Das Gleiche steht in der Behinderten-Menschenrechtskonvention, die Basis der Inklusion. Und diese Verantwortung, so Moreno weiter, lässt uns automatisch zu Schöpfern der Welt werden.
Mehr über das Psychodrama lesen Sie auf der Seite Methoden-Psychodrama.
„Vom Unsinn und des Sinns oder Vom Sinn des Unsinns”
von Paul Watzlawick
„Mag sein, dass der jüngste Tag morgen anbricht, dann wollen wir gern die Arbeit für eine bessere Zukunft aus der Hand legen. Vorher aber nicht.”
—
Bruno Bettelheim
Die Rolle des Hilfs-Ich lernte ich als einzige Schwester mit einem älteren und zwei jüngeren Brüdern früh kennen und verfolgte diese auch leidenschaftlich. Ich spielte kaum mehr mit Puppen, sondern verwandelte meine Brüder in meine Babys, umsorgte und umhätschelte sie und beobachtete und verstand in Folge auch viel von ihrem Wesen. Hier erlebte ich schon sehr früh das Rollenspiel zwischen Kindern, so wie Moreno viele Jahre zuvor, das für die Entfaltung meiner inneren und äußeren Welten eine wesentliche Rolle spielte.
Somit konnte ich in jungen Jahren unterschiedliche Welten kennenlernen, die einander gar nicht ausschließen mussten und lernte früh, aktiv in menschliche Begegnungen einzutreten und mich als Hilfs-Ich zur Verfügung zu stellen, eine für mich bis heute unversiegbare, bereichernde und sinnstiftende Quelle von Lebendigkeit und Freude an meinem Beruf.
Doch zunächst, obwohl von der Psychotherapie fasziniert, studierte ich Erziehungswissenschaften und die damals erstmalig angebotene Fächerkombination „Sonder- und Heilpädagogik“. Dieses Studium stellte eine gelungene Mischung aus Pädagogik, Philosophie, Psychiatrie und Psychotherapie dar. Zugleich betrieb ich eine Privat-Kindergruppe und wandte das gelernte ganz im Sinne einer angewandten Wissenschaft, umgehend an.
In dieser Zeit füllte sich meine innere Schatztruhe durch ganz besonders inspirierende Begegnungen: Ich durfte Bruno Bettelheim (Psychoanalytiker und Autor des Bestsellers. „Kinder brauchen Märchen“) in einer kleinen, intimen Runde in der Berggasse erleben. Die Gedenkstätte Buchenwald erinnert an ihn.
Ich durfte Paul Watzlawick (Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut, Verfasser des Bestsellers: „Anleitung zum Unglücklichsein“) bei einem Vortrag im Wiener Rathaus erleben, dessen Inhalt er später in seinem Buch „Vom Unsinn des Sinns oder vom Sinn des Unsinns” verarbeitete.
Und Rudi Ekstein, Psychoanalytiker nach Siegmund Freud, der als Kindertherapeut in den U.S.A. berühmt geworden ist. Hier lesen Sie einen Artikel über seinen Nachlass.
Zu Beginn seiner Seminare (das war 1984!) pflegte Rudi Ekstein (auch wir Student*innen durften ihn „Rudi” nennen) zu fragen, ob wir alles sehen und hören können, denn niemand ist perfekt und niemand brauche sich zu genieren ob seiner Unperfektheit. Er war der erste, der das wie selbstverständlich angesprochen hat und für mich, die ja tatsächlich hörbeeinträchtigt war, Balsam für die Seele. Er hörte aufgrund seines fortgeschrittenen Alters selbst schlecht, womit wir auf eine besondere Weise zu Verbündeten wurden. Die ersten Weichen für eine inklusive Psychotherapie waren damit in meinem Kopf gestellt.
In meiner Masterthese untersuchte ich die von vielen hörbeeinträchtigten Menschen angewendete “Verstecktaktik” und stellte Standards für eine akustisch barrierefreie Gruppentherapie mit einer von mir geleiteten Psychodrama-Gruppe für hörbeeinträchtigte Menschen auf. Hier konnte ich meine Kompetenz als Psychotherapeutin sowie als Selbstbetroffene nützen.
Dabei stellte ich zwischen Psychodrama und Inklusion viele Ähnlichkeiten fest und schrieb dazu meine Hausarbeit.
Inklusion ist Teil meiner psychotherapeutischen Tätigkeit, wobei ich damit nicht nur behinderte Menschen ansprechen möchte, denn Inklusion bezieht alle Menschen mit ein.
Naturgemäß liegen mir hörbeeinträchtigte Menschen dabei besonders am Herzen. Vor allem leicht- und mittelgradig schwerhörige Menschen, die sich oft verstecken und oft so tun, als ob sie alles hören würden, um nicht gemobbt zu werden. Das ist die “Verstecktaktik”. Dadurch werden ihre Bedürfnisse nicht wahrgenommen, wodurch sie sich wiederum im Stich gelassen fühlen und sich immer mehr isolieren. Angst, Depression und Vereinsamung sind die Folgen. Es ist eine Gruppe, die unter ihrer Beeinträchtigung besonders leidet und schlecht mit ihr umgehen kann.
Mag.a Veronika Leibetseder MSc
Rasche Hilfe für Menschen
in seelischer Not.